Lützerath.

Die Räumung von Lützerath läuft, morgen wird eine große Demonstration für den Erhalt stattfinden und Viele fragen verwundert bis fassungslos: Wie kann es denn sein, dass diese Räumung ausgerechnet dann passiert, wenn doch das Bundes- und das Landesklimaschutzministerium in Verantwortung der Grünen liegen? Haben diese Grünen Lützerath und damit sich selbst, ihre Ideale und die Klimabewegung an RWE verraten und verkauft?

Nun. Es kommt darauf an, woher man schaut. Wenige Kilometer südlich von Mönchengladbach, am Rande des Tagebaus Garzweiler, prallen derzeit nämlich nicht nur Aktivist*innen und Einsatzkräfte, nicht nur Bewegung und Partei, sondern auch zwei Logiken klimapolitischen Handelns aufeinander, die des auf Wissenschaft rekurrierenden Aktivismus und jene politischer Machbarkeit. Könnten vielleicht beide stimmen?

Die Vertreter*innen der einen Logik argumentieren, basierend auf der unter Lützerath liegenden Kohlemenge und den Berechnungen, welches Budget an Kohlendioxidemission Deutschland noch zusteht, dass genau dort die deutsche 1,5-Grad-Grenze verlaufe, also ein Abbaggern einen Bruch mit der Verpflichtung des Pariser Klimaabkommens darstellt, eine Vertragsverletzung auf Kosten des Klimas. Sie argumentieren aus einer Position klimawissenschaftlicher Notwendigkeit und sehen deshalb, zugespitzt formuliert, überhaupt keinen Anlass, Kompromisse einzugehen – mit wem denn auch, mit der Natur lässt sich ja nicht verhandeln.

Die anderen, das sind die knappe Mehrheit des Grünen Bundesparteitags etwa und auch ich, begründen ihre Position und Handlungsweise aus einer Logik politischer, demokratisch-rechtsstaatlicher Machbarkeit heraus. Sie verweisen auf das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Bund, Land NRW und RWE, den Braunkohleausstieg in Westdeutschland von 2038 auf 2030 vorzuziehen, die Restmenge abzubaggernder Kohle auf 280 Millionen Tonnen zu halbieren und damit dazu beizutragen, die Einsparziele im Energiesektor einzuhalten, und das alles ohne zusätzliche Entschädigungszahlungen an RWE. Sie sehen das als einen großen politischen Erfolg für den Klimaschutz und die Anti-Kohle-Bewegung, der sie sich zugehörig oder zumindest nah fühlen. Und das mitten in einer historischen Energiekrise, die allenthalben den Ruf nach vermeintlich sicherer, also fossiler Energie aufkommen lässt.

Beide Argumentationen haben einen Punkt, keine von ihnen ist pauschal falsch oder anrüchig. Und doch, oder gerade deswegen, herrscht zwischen ihnen eine so große Sprachlosigkeit, die gemeinsame Lösungen schwer macht.

Ich will etwas detaillierter auf die Logik eingehen, die mich leitet bzw. zum Zeitpunkt, als ich mit dafür Verantwortung trug, geleitet hat. Als wir im Mai des letzten Jahres nach einer Woche intensiver Sondierungen unserer Partei empfahlen, Koalitionsverhandlungen mit der CDU zu beginnen, wurde Kritik daran laut, dass es im Abschnitt zu einem beschleunigten Kohleausstieg und der Rettung der Dörfer im sogenannten dritten Umsiedlungsabschnitt keine aktive Formulierung gab, Lützerath zu erhalten. In einem Interview mit der Lokalredaktion der Rheinischen Post in Duisburg habe ich sinngemäß und lapidar und zugegeben recht unsensibel geäußert, die 1,5-Grad-Grenze (als physische Linie am Ortseingang von Lützerath) sei ein starkes Symbol der Klimagerechtigkeitsbewegung. Aber ob wir auf den 1,5-Grad-Pfad kämen, mache sich eben nicht allein an Lützerath als Symbol fest, sondern an der Gesamtheit einer ambitionierten Klimapolitik, und dieser Ort, zumal höchstrichterlich ausgeurteilt, sei nicht der einzige Kampf, an dem es sich entscheide. Das war vermutlich unvorsichtig formuliert. In der Folge bekam ich in meinem Mailpostfach und auf Demos vor unserer Geschäftsstelle einen Vorgeschmack auf das, was wir jetzt im Zuge der beginnenden Räumung an Enttäuschung und Wut erleben.

Ich habe damals so argumentiert, weil ich schlicht bei der rechtlichen Ausgangslage keine große Hoffnung hatte, dass der Ort erhalten bleiben könnte. Mit Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster vom März hatte der letzte Einwohner von Lützerath seine juristische Auseinandersetzung gegen RWE verloren. Der Konzern besaß damit, rechtlich unangreifbar, jeden Millimeter des Ortes und darüber hinaus auch das Recht, die Kohle darunter abzubaggern und für die Kohleverstromung zu nutzen. Man muss es nicht gut finden, aber in einem Rechtsstaat kann man sich ja auch nicht aussuchen, welche Urteile man beachtet und welche nicht – unbenommen davon, dass man als Gesetzgeber natürlich dafür sorgen kann und muss, dass die gesetzlichen Grundlagen für zukünftige Entscheidungen sich ändern. Man könnte also auf die Eingangsfrage antworten: Die Grünen haben Lützerath nicht an RWE verkauft, sie hätten es im wahrsten Sinne des Wortes von RWE zurückkaufen müssen.

Im Koalitionsvertrag mit der CDU haben wir verabredet, dass mit dem Konzern Verhandlungen geführt werden sollten. Das Ergebnis dieser Gespräche ist bekannt: Fünf bewohnte Dörfer und die drei Holzweiler Höfe und damit die Wohnorte von 500 Menschen werden gerettet, der Kohleausstieg im Westen gesetzlich auf 2030 vorgezogen. Diese Dörfer wären, ohne dass es diese Verhandlungen gegeben hätte, ebenfalls verloren gegangen. Weiter besteht RWE allerdings aus verschiedenen Gründen darauf, die Kohle unter Lützerath abzubaggern. Ich war bei diesen Verhandlungen nicht dabei und es ist müßig zu spekulieren, ob auch eine andere, noch bessere Lösung hätte herauskommen können. Aber die Idee, dass es einfach in der Macht der Grünen Minister*innen in Land und Bund gestanden hätte, Lützerath zu retten, ohne dafür einen sehr sehr hohen Preis zu zahlen, scheint mir nicht sonderlich plausibel.

Gesetzlich galt zu diesem Zeitpunkt nach dem Kohleverstromungsbeendigungsgesetz das Jahr 2038 als Ausstiegsdatum, verbunden mit entsprechenden Genehmigungen, am Tagebau 560 Millionen Tonnen Kohle abzubauen und zu nutzen. Dieses Gesetz ist übrigens die legislative Umsetzung des Kompromisses der Kohlekommission, dem damals auch die beteiligten Umweltverbände von BUND bis Greenpeace zugestimmt haben. Und das nicht, weil sie der Auffassung waren, dass 2038 ein perfekter Zeitpunkt für den Kohleausstieg sei, sondern weil sie wussten, dass zu diesem Zeitpunkt mehr nicht möglich war. Sie haben sich auf die Logik demokratischer Kompromissfindung und politischer Machbarkeit eingelassen, und gesagt: 2038 ist besser als 2045, und von dort aus kämpfen wir dann weiter.

Und dieser Kampf findet jetzt halt statt, und der BUND und andere sagen nun, wiederum der Bewegungslogik folgend, die von Grünen in Land und Bund erreichte Verbesserung des von ihnen unterschriebenen Kompromisses sei eben nicht ausreichend. Und auch das ist absolut nachvollziehbar. Eine Klimabewegung, die einer Regierung zu einem solchen Teilerfolg applaudiert, statt noch mehr einzufordern, macht sich überflüssig.

So wenig, wie die Bewegung sagen kann: „Super, was ihr da macht!“, so wenig kann eine grüne Regierungspolitik aber das Gute ablehnen, weil sie das Bessere in den Mehrheits- und Rechtsverhältnissen nicht erreichen konnte. Denn immer, wenn Grüne vor der Frage stehen: Nehmen sie das Mehr an Klimaschutz, was erreichbar war, oder verabschieden sie sich, weil sie nicht alles erreichen konnten? – dann werden sie sich völlig zu Recht für das Mehr an Klimaschutz entscheiden.

Der Kohleausstieg 2030, so nötig er ist, ist leider weder gesellschaftlicher Konsens, noch war er vor einigen Wochen schon Gesetzeslage. Für die Kohleregionen im Osten ist er es immer noch nicht, dort gilt nach wie vor das von der Großen Koalition beschlossene Enddatum 2038. Die Ost-Ministerpräsidenten, ob von SPD oder CDU, wollen auch dabei bleiben, wenn nicht sogar weiter in die Zukunft Kohle verfeuern. Das zeigt, wie schwierig dieser Kampf wird, und auch hier wird es den Druck aus der Bewegung brauchen. Und auch hier werden wir mit den 14,8 Prozent, die wir bei der Bundestagswahl erreicht haben, nicht einfach per Dekret Schluss machen können. Für jede Entscheidung, so sehr sie sich wissenschaftlich aufdrängt, braucht es eine demokratische, gesetzgeberische Mehrheit. 

Deshalb glaube ich, dass die, die sagen, der „Deal“ ist mindestens ein okayer, vielleicht sogar ein guter oder sehr guter, durchaus Recht haben.

Nur: Die anderen haben mit ihrer Argumentation ja auch Recht, dass das alles nicht ausreicht, um das Klima zu retten, dass wir noch immer auf eine erhitzte Welt zurasen, die keiner wollen kann, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Und sie machen das aktuell nun mal an der Abbaggerung Lützeraths fest.

Wie kommt man heraus aus dieser Situation? Ist ein Bruch zwischen mindestens Teilen der Klimabewegung und denen, die im Parlament ihre Forderungen umsetzen sollen und ja auch in großen Teilen wollen, zu vermeiden? Nun. Weder werden die, die im Rahmen des politisch und rechtlich Möglichen „in der Sache“ ziemlich viel fürs Klima erreichen konnten, jetzt in Sack und Asche gehen wollen, und das von ihnen zu verlangen, scheint mir auch nicht nachvollziehbar. Es wird auch nicht gelingen, jene, die den Abriss eines Ortes für die Förderung von sehr viel Kohle als das absolut falsche Signal in einer sich zuspitzenden Klimakrise sehen, davon zu überzeugen, dass das nun mal die einzig denk- und machbare Lösung war.

Das muss es aber auch nicht. Denn es ist ja der strukturell gar nicht lösbare Konflikt dieser Logiken, den zu akzeptieren und produktiv zu nutzen auch eine Chance für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Zukunft sein kann. Denn ohne den massiven Druck aus der Gesellschaft sind politische Erfolge im parlamentarischen Raum genauso wenig denkbar wie Erfolge einer Bewegung, wenn es keine Partei gibt, die sie gesetzgeberisch umsetzt.

Meine Sorge darum, was jetzt folgt, betrifft darum auch weniger das Verhältnis zwischen den Grünen und der Bewegung, als den Einsatz für Klimaschutz insgesamt. Ich hoffe sehr, dass nach diesen für alle herausfordernden Tagen und Wochen, die uns noch bevorstehen, auch wieder neue Gemeinsamkeit und neue Zuversicht reifen kann. Denn wenn ich mir vorstelle, ich würde die These vertreten, die 1,5-Grad-Grenze verliefe wirklich genau dort, wo jetzt die Bagger anrücken: Hieße das nach einer Räumung Lützeraths dann, jeder Kampf um das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wäre hoffnungslos verloren? Das wäre ja eine ziemlich niederschmetternde und entmutigende Botschaft.

Im Mai 2022 habe ich provokativ gefragt, ob man es sich mit dieser Festsetzung Lützeraths als dem Gradmesser für das Erreichen der Klimaziele nicht sehr schwer macht – immerhin waren auch damals schon die Erfolgsaussichten nicht besonders groß – und gleichzeitig auch etwas zu einfach. Denn, wenn man sich anschaut, wo überall für den Klimaschutz was getan werden muss, warum verläuft die 1,5-Grad-Grenze dann nicht auch vor dem Stahlwerk von thyssenkrupp bei mir in Duisburg, immerhin verantwortlich für drei Prozent der nationalen CO2-Emissionen? Oder am Flughafen Frankfurt, von dem jeden Tag zig Flüge in alle Welt starten? Oder millionenfach an den schlecht gedämmten Außenwänden der Alt- und Nachkriegsbauten mit ihrer geradezu erbärmlichen Energieeffizienz? Kurz gesagt: Wir haben sehr, sehr viel zu tun, an sehr unterschiedlichen Stellen, um dem gerecht zu werden, was von uns verlangt wird.

Mein Eindruck ist, dass zu der Räumung von Lützerath etwas anderes erschwerend hinzukommt, nämlich dass trotz aller Gesetze zur Erleichterung des Ausbaus der Erneuerbaren, trotz der Oster- und Sommerpakete der Energiewende, am Ende die Nachrichten über den Bau von LNG-Terminals an der Küste und die Suche nach neuen Gaslieferanten die energiepolitische Debatte dominiert haben. Klimaschutz war abstrakt immer Thema, aber besonders schnell und erfolgreich waren wir am Ende an anderen Stellen.

Nach Monaten der Krisenbewältigung, die zur Sicherung von Versorgung mit Strom und Wärme neue fossile Infrastrukturen hat nötig werden lassen, muss 2023 das Jahr des ambitionierten klimapolitischen Wandels sein. Und das nicht nur, wie man so schön sagt, „in der Sache“, sondern auch für alle sichtbar und konkret greifbar. Ich will dazu meinen Beitrag leisten. Der Fraktionsvorstand der grünen Bundestagsfraktion hat mich angefragt, gemeinsam mit meiner Kollegin aus dem Energie- und Klimaausschuss Lisa Badum die fachbereichsübergreifende Projektgruppe „Klimaneutral Wirtschaften“ zu leiten, die über diese Wahlperiode Antworten auf offene Frage der sozial-ökologischen Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft bringen soll. Es ist das erklärte Ziel, Lösungen zu entwickeln, die über das in dieser Legislaturperiode in der Regierung Umsetzbare hinausgehen. Auf diese Arbeit freue ich mich sehr.

Also: Reichen unsere bisherigen Bemühungen aus? Nein, ganz offensichtlich nicht. Darf man sich damit zufrieden geben? Bloß nicht! Braucht Klimapolitik Radikalität? Auf jeden Fall! Muss Klimaaktivismus demokratische Politik herausfordern, kritisieren, zuweilen auch angreifen? Unbedingt!

Ist Lützerath der einzige, der beste Kampf dafür? Ich glaube nicht.

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